Menschen mit geistigen Behinderungen als Akteure ihrer Geschichte: Teilhabeorientierte Praktiken einer Public Disability History (Jan-Christian Wilkening)

Seit einigen Jahren entwickelt sich die Disability History mehr und mehr zu einer allgemeinen Subdisziplin der Geschichtswissenschaften, nicht zuletzt auch beeinflusst durch gesellschaftliche Diskurse über den Umgang mit Behinderung. Durch die Bedeutung, die das Phänomen „Behinderung“ in der Gegenwart erlangt hat, wächst auch die Aufmerksamkeit gegenüber der Vergangenheit. Indem Forschungsergebnisse zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen über Ausstellungen, Bücher, Filme und letztlich auch Material für den Geschichtsunterricht ihren Weg in die Öffentlichkeit finden, wird aus einer Disability History in vielen Fällen eine Public Disability History. Public History steht generell vor der Herausforderung, das Verhältnis zwischen Wissenschaftsorientierung und Aktivismus auszuloten. Dieses Spannungsfeld tritt schon allein deswegen auf, da Public Historians dadurch, dass sie für eine weit gefasste Zielgruppe arbeiten, in gewisser Weise auch eine öffentliche Dienstleistung erbringen; diese zielt nicht nur auf die Reflexion der Vergangenheit, sondern auch auf eine Verbesserung der Gegenwart und Zukunft. Public History kann jedoch auch als Teilhabeprojekt verstanden werden, indem unterrepräsentierte Gruppen am Prozess der Geschichtsschreibung beteiligt werden können. Dieses von der DFG geförderte Projekt versucht, eine Public Disability History einerseits theoretisch zu modellieren, darüber hinaus aber die praktische Anwendung dieses Modells empirisch zu begleiten. Zielgruppe sind Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung.
Ausgangspunkt des Forschungsprojektes ist ein Modell einer Public Disability History, welches sowohl die politischen Forderungen der Behindertenrechtsbewegung, die aus einer Disability History als emanzipatorische Geschichte resultieren, berücksichtigt als auch die epistemologischen Herausforderungen einer derart normativen Forschung kenntlich macht. Auf Basis dieses Modells soll eine Geschichtswerkstatt konzipiert werden, in der Menschen mit geistiger Behinderung entsprechend des Leitmotivs der Behindertenrechtsbewegung “Nichts über uns, ohne uns” eine Ausstellung zur Geschichte von Menschen machen, die dieser Gruppe in der Vergangenheit zugeordnet wurden. Methodisch wird dabei ein partizipativer Ansatz verfolgt, bei dem die Erstellung von Ausstellungstexten in Leichter Sprache ein zentraler Aspekt ist. Die Arbeit der Geschichtswerkstatt soll ethnografisch begleitet werden, die Gestaltung der Ausstellungstexte hinsichtlich ihrer inhaltlichen Verständlichkeit soll im Rahmen der Ausstellung bei heterogenen Besuchergruppen erfasst werden. Forschungsfragen sind:
•    Welche historischen Aushandlungsprozesse vollziehen Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung bei der Rekonstruktion von Geschichte mit Hilfe adressatengerechter Sprache?
•    Welche historischen Sinnbildungsprozesse werden durch Texte in Leichter Sprache bei behinderten und nichtbehinderten Rezipient:innen angeregt?

Betreuung: Prof. Dr. Sebastian Barsch