Menschen mit Behinderung in Deutschland nach 1945. Selbstbestimmung und Partizipation im deutsch-deutschen Vergleich: Ein Beitrag zur Disability History
Fördervolumen: € 475.000 (gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft - DFG)
Laufzeit: Frühjahr 2012 bis Herbst 2017
Das Projekt untersucht Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Praktiken und Vorstellungen in Bezug auf "Behinderte" sowie Strategien von Menschen mit Behinderung, auf politische Normsetzungen und gesellschaftliche Zuschreibungen einzuwirken. Die Möglichkeiten und Grenzen für Selbstbestimmung und Partizipation in Auseinandersetzung mit sozialen Konstruktionen von Behinderung werden in einem deutsch-deutschen Vergleich von 1945 bis in die frühen 1990er Jahre ausgelotet. Im Unterschied zur bisherigen Forschung, die in erster Linie das Handeln von Nichtbehinderten gegenüber Behinderten thematisierte, wird dezidiert auch die Perspektive der Betroffenen einbezogen und in drei Teilprojekten analysiert. 1. wird die Interessenpolitik von Betroffenenorganisationen anhand ihrer Bemühungen analysiert, auf Gesetzesvorhaben Einfluss zu nehmen, über Selbstadvokation soziale Inklusion zu fördern oder mittels Öffentlichkeitsarbeit Repräsentationen von Behinderung zu beeinflussen. 2. wird der Behindertensport als ein Ort alltäglicher Interaktion untersucht, wo man gegen vorhandene Barrieren anging und um soziale Partizipationschancen stritt. Hier wurden zudem Körperbilder und gesellschaftliche Stereotype von Behinderung im Wechselspiel mit identitären Selbstentwürfen verhandelt. 3. wird verfolgt, wie Menschen mit Behinderung auf ihren eigenen Lebensalltag in der Arbeitswelt Einfluss nahmen und zu welchen Kooperation und Konflikten es zwischen Behinderten und Nichtbehinderten vor dem Hintergrund sozialpolitischer Direktiven und existierender Stereotype kam. Das Gesamtprojekt erweitert mithin die sozial- und kulturgeschichtliche Forschung mit Hilfe der Disability History um eine bisher vernachlässigte Dimension sozialer Ungleichheit.
Bearbeiter: Sebastian Schlund, Jan Stoll, Bertold Scharf
Publikationen
Gabriele Lingelbach / Jan Stoll: Die 1970er Jahre als Umbruchsphase der bundesdeutschen disability history? Eine Mikrostudie zu Selbstadvokation und Anstaltskritik Jugendlicher mit Behinderung; in: Moving the Social 49 (2013), S. 25-52.
Gabriele Lingelbach / Sebastian Schlund: Disability History. Version 1.0; in: Docupedia-Zeitgeschichte, 8.07.2014.
Jan Stoll: „Behinderung“ als Kategorie sozialer Ungleichheit. Entstehung und Entwicklung der "Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind" in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren; in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 169-192.
Bertold Scharf: Tagungsbericht Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Die Lebenslage von Menschen mit Behinderungen in Deutschland nach 1945: Periodisierungsfragen der deutschen Zeitgeschichte aus interdisziplinärer Perspektive. 20.03.2014–22.03.2014, Köln, in: H-Soz-Kult, 02.09.2014, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5520.
Jan Stoll: Disability Movements: National Policies and transnational Perspectives - Introductory Remarks, in: Moving the Social 53 (2015), S. 5-10.
Jan Stoll: The German Disabilty Movement as a transnational, entangled New Social Movement, in: Moving the Social 53 (2015), S. 63-86.
Gabriele Lingelbach (Hg.): Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Campus Verlag, Frankfurt 2016. (Zusammen mit Anne Waldschmidt)
Sebastian Schlund: Kompensation des "Makels"? Der organisierte Sport kriegsversehrter Männer in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 1968, in: Bernhard Gotto/ Elke Seefried (Hg.), Männer mit "Makel". Männlichkeiten und gesellschaftlicher Wandel in der frühen Bundesrepublik (= Zeitgeschichte im Gespräch, Bd. 25), Berlin 2016, S. 49-61.
Gabriele Lingelbach: Disability History - Begriffe, Themen, Methoden in: Geschichte betrifft uns 5 (2016), S. 4-6.
Jan Stoll: Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderung in Westdeutschland seit 1945, Dissertation, Frankfurt a.M./ New York 2017.
Gabriele Lingelbach: Jenseits der Epochengrenzen: Perspektiven auf die allgemeine Geschichte, in: Cordula Nolte et al. (Hg.): Handbuch der Dis/ability History der Vormoderne, Affalterbach 2017, S. 50-52 (zusammen mit Anne Waldschmidt).
Sebastian Schlund: "Behinderung" überwinden? Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1990), Frankfurt am Main/ New York 2017.
Gabriele Lingelbach (Hg.): Blindheit in der Gesellschaft. Historischer Wandel und interdisziplinäre Zugänge, Campus Verlag, Frankfurt 2018 (Sammelband, herausgegeben zusammen mit Alexa Klettner).
Potenziale und Grenzen einer multi- bzw. interdisziplinären Analyse von Blindheit als gesellschaftlichem Phänomen, in: Alexa Klettner / Gabriele Lingelbach (Hg.): Blindheit in der Gesellschaft. Historischer Wandel und interdisziplinäre Zugänge, Campus Verlag, Frankfurt 2018, S. 7-33 (zusammen mit Alexa Klettner).
Behindert/Nicht Behindert. Disability History, in: APuZ 63 (2018), H. 38/39, S. 37-41. [http://www.bpb.de/apuz/275890/behindert-nicht-behindert-disability-history]
Gabriele Lingelbach (Hg.): Disability History (= Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70, Heft 1/2, 2019) (Themenheft).
Gabriele Lingelbach: Der Stand der Forschung zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70, H. 1/2 (2019), 5-21.
Bertold Scharf / Sebastian Schlund / Jan Stoll: Segregation oder Integration? Gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der DDR, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70, H. 1/2 (2019), 52-71.
Tagungen
Die Geschichte des Kauf- und Konsumboykottes in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert
Fördervolumen: € 164.810 (gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft – DFG)
Laufzeit: Herbst 2013 bis Herbst 2016
Das Projekt analysiert am deutschen Beispiel die Geschichte von Kauf- und Konsumboykotten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als katalysatorische Momente der Durchsetzung soziomoralischer und politischer Intentionen über Märkte. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht vor allem die Arbeit derjenigen Personen und Gruppen, die dazu aufgerufen haben, auf den Kauf oder Konsum bestimmter Waren und Dienstleistungen zu verzichten oder einzelne Unternehmen zu meiden. Die Trägerschaft solcher Boykottaufrufe soll als Teil von sozialen Bewegungen verstanden werden. Aus einer akteurszentrierten Perspektive werden unter anderem Zielsetzungen, Strategiewahl und Aktionsformen sowie die soziale Basis und Entwicklungsdynamiken der Boykotteure und ihrer Aktionen beschrieben. Ergänzend hierzu wird auch die Perspektive von betroffenen Unternehmen herangezogen, um Aussagen zur Wirkmächtigkeit der analysierten Boykottaktionen treffen zu können. Ziel ist es, anhand dieser konkreten Formen kollektiven Markthandelns sowohl die aktivistische als auch die historisch-prozessuale Dimension moralisierter Märkte – stärker als in der bisherigen Forschung geschehen – herauszuarbeiten.
Das Projekt bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Es leistet vornehmlich einen Beitrag zur Erforschung sozialer Bewegungen, trägt aber darüber hinaus durch die Untersuchung des Zusammenhanges von Konsum und sozio-moralischen Intentionen ebenso zu einer Historisierung von Moralvorstellungen bei. Zudem sollen Interdependenzen zwischen gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen und dem Handeln kollektiver Marktakteure aufgezeigt werden.
Mitarbeiter: Martin Gerth
Vorträge
Martin Gerth: The History of Boycott Movements in Germany - Restrictions and Promotion of Consumer Well-Being; Symposium des International Centre for Anti-consumption Research (ICAR), Universität Kiel, 4.7.2014.
Martin Gerth: "Die Geschichte des Kauf- und Konsumboykottes in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert"; Doktorandenkolloquium Neuere Geschichte (Prof. Dr. Knoch), Historisches Institut der Universität Köln, 15.12.2014.
Martin Gerth: "Die Geschichte des Kauf- und Konsumboykottes in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert"; "Nordlichtertreffen", Universität Hannover, 10.01.2015.
Veröffentlichungen
Martin Gerth: The History of Boycott Movements in Germany: Restrictions and Promotion of Consumer Well-Being; in: Lee, Michael; Hoffmann, Stefan (Hrsg.): Anti-consumption and Consumer Well-being (ICAR-Proceedings), Kiel 2014 (abrufbar unter:http://www.marketing.bwl.uni-kiel.de/en/icar-2014/icar-proceedings/icar-proceedings).
Institutionalisierte Geschichte. Der Verband Deutscher Historiker und seine Historikertage 1890 bis 1950
Fördervolumen: € 125.000 (zur Verfügung gestellt von der Fritz Thyssen Stiftung)
Laufzeit: April 2013 bis März 2015
Der Gegenstand des von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Projektes ist die Geschichte des aus den ersten deutschen Historikertagen hervorgegangenen, 1895 gegründeten Verbandes Deutscher Historiker zwischen wilhelminischem Kaiserreich und der Wiedergründung des Verbandes nach 1945. Ausgehend von den vom Historikerverband veranstalteten Historikertagen sollen am Beispiel der Verbandsgeschichte Bedingungen, Möglichkeiten und Probleme von Institutionalisierungen bzw. Institutionen in den historischen Wissenschaften seit der Jahrhundertwende untersucht werden. Als wenig verfestigte Institution, vorwiegend geprägt durch die in ihrem Rahmen wirkenden Akteure, können anhand der Geschichte des Historikerverbandes sowohl der Prozess der methodischen und thematischen Ausdifferenzierung bzw. Standardisierung als auch jener der fortschreitenden Institutionalisierung des Faches analysiert werden.
Mit den Historikertagen als zentralem Forum des fachlichen Austauschs, als kontinuierlich abgehaltener und öffentlich wirksamer Fachtagung gewinnt eine Geschichte des Verbandes Deutscher Historiker zudem an besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Deutschland. Als Vertreter auf den Internationalen Historikertagen wie im Internationalen Historikerkomitee war der Historikerverband seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre darüber hinaus Repräsentant der deutschen Geschichtswissenschaft in der Zusammenarbeit wie auch Auseinandersetzung mit anderen nationalen historischen Disziplinen. Das Projekt strebt deshalb eine Darstellung der Entwicklung des Verbandes Deutscher Historiker in seinen internationalen Verflechtungen wie auch im interdisziplinären Vergleich an und wird zudem nach der Rolle des Verbandes bei der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und seiner Bedeutung als Instanz fachlicher Standardisierung sowie nach seinem Wirken im Beziehungsverhältnis von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit fragen.
(Die Studie erschien 2018 im Wallstein Verlag: Matthias Berg / Olaf Blaschke / Martin Sabrow / Jens Thiel / Krijn Thijs: Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893-2000, 2 Bde.)