Abgeschlossene Promotions- und Habilitationsprojekte

Abgeschlossene Dissertationen

Pia Schmüser: Familien mit behinderten Kindern in der DDR (Dissertationsprojekt)

Der Alltag von ostdeutschen Familien mit behinderten Kindern stellt sowohl aus Perspektive der DDR-Geschichte und Disability History als auch der Familiengeschichte und Care History ein Forschungsdesiderat dar. Unter Rückgriff auf Ergebnisse dieser Ansätze will das Projekt diese Lücken schließen und analysieren, wie nicht-behinderte und behinderte Angehörige im familiären Rahmen auf behinderungsspezifische Probleme, Barrieren und Diskriminierungserfahrungen reagierten. Im Zentrum stehen hierbei Rollenverteilungen und Aufgabenzuweisungen, Aushandlungsprozesse und Konfliktmechanismen, Machthierarchien und Identitätskonstruktionen innerhalb der Familien und deren Wandel im Zeitverlauf. Gleichfalls in den Blick genommen werden dabei gesamtgesellschaftliche Entwicklungen politischer, sozialer und kultureller Natur als Hintergrund für den familiären Alltag sowie Rückkoppelungseffekte zwischen beiden Sphären, bspw. der zunehmende Ausbau staatlicher sozialpolitischer Maßnahmen, insbesondere im Heim- und Sonderschulwesen. Hierbei können gerade auch im Vergleich zur westdeutschen Entwicklung verschiedene zeitgenössische sowie von der DDR-Forschung formulierte Thesen und Konzepte am Fallbeispiel von Familien mit behinderten Kindern auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft werden. Mit wieviel ,Eigensinn‘ wurde beispielsweise auf die ,Fürsorgediktatur‘ oder staatlich propagierte, ideologisch gefärbte Erziehungskonzepte reagiert? Schlugen sich die vergleichsweise hohe Frauenerwerbstätigkeit und frühe Pluralisierung von Familienkonzeptionen auch in Familien mit behinderten Kindern und etwa der dortigen Verteilung der Pflegearbeit nieder? In diesem Sinne will die Arbeit erstmals unter Berücksichtigung der sich wandelnden historischen Kontexte auf empirischer Basis die Situation Sorge gebender und Sorge empfangender Angehöriger in Familien mit behinderten Kindern in der DDR nachzeichnen und erklären.

(Die Dissertation von Frau Schmüser ist im Oktober 2023 beim Campus-Verlag unter dem Titel 'Familiäre Rehabilitation? Eine Alltagsgeschichte ostdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945-1990)' erschienen.)

Teilprojekt im Rahmen des vom BMBF finanzierten Vorhabens,Verbundprojekt: Menschen mit Behinderungen in der DDR (DisHist).

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Bertold Scharf: Die Arbeitswelten von Menschen mit Behinderung in der DDR seit 1945 (Dissertationsprojekt)

Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit den Arbeitswelten von behinderten Menschen seit 1945 in der DDR. Die Zuordnung von Menschen zur Kategorie „Behinderte/r“ geschah und geschieht bis heute insbesondere durch den Faktor Arbeit und die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit der Betroffenen. Die Analyse der Kategorie „Behinderung“ soll die In- und Exklusionsmechanismen in der „Arbeitsgesellschaft“ DDR in den Blick nehmen und hierbei die Wandlungsprozesse in der Gesellschaft herausarbeiten. Gleichzeitig sollen die Normvorstellungen in Bezug auf Behinderung, Körper und Leistungsfähigkeit untersucht und der Umgang der Betroffenen hiermit behandelt werden. Im Sinne der Disability History wird in diesem Zusammenhang nach den Faktoren gefragt, die in historischen Konstitutionsprozessen die Zuschreibung „Behinderung“ hervorgebracht haben. Anhand der Arbeit von Menschen mit Behinderung sollen die Konfliktlinien, aber auch die Selbstverständlichkeiten und konsensualen Praktiken der DDR-Gesellschaft herausgearbeitet werden. Auf welchen Feldern traten Schwierigkeiten und Konflikte zwischen den unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren auf? Welche Probleme traten bei der Durchsetzung gesetzlicher Regelungen auf? Welche Arbeit war hierbei für behinderte Menschen vorgesehen und wie sah die konkrete Praxis aus? Die Untersuchung basiert auf Dokumenten aus staatlichen und kirchlichen Quellen (Schriftwechseln, Protokollen, Anordnungen etc.), die bislang von der geschichtswissenschaftlichen Forschung noch kaum wahrgenommen wurden. Anhand dieser kann gezeigt werden, welche Vorbehalte die Betriebe gegenüber Menschen mit Behinderung hatten und welchen Grenzen der Beschäftigung von behinderten Menschen aus ökonomischen und konzeptuellen Gründen gesetzt waren. Charakterisierungen der DDR wie „Erziehungsdiktatur“, „diktatorischer Wohlfahrtsstaat“ und „Fürsorgediktatur“ – um nur einige der prominenteren zu nennen - werden hierbei einer kritischen Überprüfung unterzogen.
 

Mona Rudolph: Von Lüderitzbucht nach Berlin und darüber hinaus: Eine Globalisierungsgeschichte der Diamanten aus dem kolonialen Namibia, 1908-1931 (Dissertationsprojekt)

Ein Jahr nach der zufälligen Entdeckung reicher Diamantenvorkommen in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika erfolgten der Abbau, die Verarbeitung sowie der Verkauf der Diamanten entlang einer etablierten Warenkette: Von Lüderitzbucht wurden die Edelsteine über Hamburg nach Berlin transportiert, dort sortiert und vorrangig an Schleifereien in das belgische Antwerpen weiterverkauft. Zwischenhändler aus London, Amsterdam, Paris, Genf und New York kauften die nunmehr belgische Ware auf und veräußerten sie an Juweliere, welche die Diamanten als prachtvolle Schmuckstücke an die Verbraucher weiterverkauften. Dieser Warenkette widmet sich das Dissertationsprojekt und untersucht den Weg der im kolonialen Namibia gewonnenen Diamanten von der Förderstätte bis zum Konsumenten über einen 23-jährigen Zeitraum hinweg. Die zahlreichen Etappen, welche die Diamanten von der ersten Produktionsstätte über verschiedene Zwischenhändler bis hin zum Verkauf an den Endverbraucher genommen haben, sollen rekonstruiert werden und zugleich soll der Wandel analysiert werden, dem diese Warenkette unterlag. An den Schnittstellen von Global-, Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte angesiedelt, zielt die Arbeit darauf ab, die Interessen und Handlungsmöglichkeiten der Hauptakteure – den eigentlichen Trägern der Warenkette – in den Blick zu nehmen und die zunehmenden Verdichtungen globaler Verflechtungen von Afrika über Europa bis nach Amerika aufzuzeigen. 
 

Raphael Rössel: ,Behinderte‘ Familien? Aufgabenverteilung und Rollenzuweisungen im Alltag westdeutscher Familien mit behinderten Angehörigen zwischen 1945 und den 1980er Jahren (Dissertationsprojekt)

Die Zeitgeschichte von Familien mit behinderten Angehörigen ist bisher noch nicht untersucht worden. Um diese Forschungslücke zu füllen, wird unter heuristischem Rückgriff auf Ansätze und Forschungsergebnisse der Disability History, der Familiengeschichte und der Care History am bundesrepublikanischen Fallbeispiel die Spezifik der Konstellationen von Familien mit behinderten Angehörigen, genauer: mit behinderten Kindern und Jugendlichen, historisch analysiert. Im Zentrum des Dissertationsprojekts stehen die alltäglichen Rollenzuweisungen und die Aushandlungsprozesse in Bezug auf Aufgabenverteilungen in den betroffenen Familien, mussten die behinderten und die nicht behinderten Familienangehörigen doch stets miteinander entscheiden, wer von ihnen welche Aufgaben in der familiären Reproduktions- und in der Sorgearbeit zu übernehmen hatte. Diese Aufgaben und Rollen waren insofern spezifisch, als insbesondere die Bewältigung von behinderungsgenerierten Barrieren oder von Folgen gesellschaftlicher Diskriminierungen im Alltag zu bewerkstelligen war. Untersucht werden in diesem Zusammenhang die Konfliktaustragungsmechanismen, Machthierarchien und Identitätskonstruktionen innerhalb der betroffenen Familien. Der Wandel der innerfamiliären Aushandlungsprozesse wird vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen analysiert, die den familiären Alltag beeinflussten. Gefragt wird danach, wie gesamtgesellschaftliche Veränderungen in Hinblick auf Familienkonzeptionen und -strukturen, auf Geschlechterbilder, auf die Sozial-, Familien- und Rehabilitationspolitik sowie der Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre in die betroffenen Familien hineinwirkten und dort zu stets neuen Aushandlungsprozessen führten. Einer zentralen Forderung der Disability History nachkommend, werden mit dieser Fragestellung Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen nicht nur als Objekte beispielsweise sozialpolitischen Handelns, sondern als Subjekte ihrer Geschichte wahrgenommen.

(Die Dissertation von Herrn Rössel ist Oktober 2022 beim Campus-Verlag unter dem Titel 'Belastete Familien. Eine Alltagsgeschichte westdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945-1990)' erschienen.)
 

Nils Kühne: „Drückeberger“ oder „Held des Alltags“? Zivildienstleistende in Pflegeheimen in der Bundesrepublik Deutschland (Dissertationsprojekt)

Das Dissertationsprojekt untersucht aus sozial- und pflegegeschichtlicher Perspektive, inwiefern Zivildienstleistende den Alltag in Pflegeheimen in der Bundesrepublik beeinflussten. Das Projekt stellt dabei die These auf, dass Zivildienstleistende Katalysatoren waren, die gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in die Pflegeheime hineintrugen und somit entscheidend zu den Wandlungsprozessen in den Pflegeheimen seit den 1960er Jahren beitrugen. Da Zivildienstleistende aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters und ihrer oft überdurchschnittlichen Bildung eine spezifische soziale Gruppe innerhalb des Pflegepersonals bildeten, soll nach den sich stetig wandelnden Interdependenzen zwischen Zivildienstleistenden, Stammpersonal und Heimbewohner_innen gefragt und diese Ungleichheitsdimensionen intersektional analysiert werden. Dabei geht es in dem Projekt auch darum, Privilegien zu untersuchen, die sich aus Ungleichheitslagen ergaben, um so das Konzept „Intersektionalität“, mit dem in der Forschung bisher hauptsächlich nach den Ursachen von Diskriminierungen gefragt wurde, zu erweitern. Insgesamt versucht das Projekt mit seinem Blick auf die Konflikte und Aushandlungsprozesse der verschiedenen Akteure in den Pflegeheimen, sozialhistorische Deutungsmuster wie das einer Liberalisierung und eines Wertewandels einer neuakzentuierten Betrachtung zu unterziehen.

(Die Dissertation ist unter dem Titel "Mittendrin. Zivildienstleistende in evangelischen Pflege- und Betreuungseinrichtungen (1960er bis 1980er Jahre erschienen und kann unter folgendem Link abgerufen werden: https://macau.uni-kiel.de/receive/macau_mods_00002901)
 

Martin Gerth: Die Geschichte des Konsumboykottes in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert (Dissertationsprojekt)

Spätestens seit den Protesten gegen multinationale Konzerne wie Shell und Nike oder ganze Staaten (Südafrika), bei denen Boykotte eine nicht unerhebliche Rolle innerhalb der Kampagnen spielten, ist das Phänomen im öffentlichen Bewusstsein präsent. Demgegenüber wurde den historischen Vorläufern dieser Aktionen – mit Ausnahme der antijüdischen Boykotte während der NS-Zeit – bislang relativ wenig Aufmerksamkeit zuteil. In diesem Sinne ist die Arbeit als systematische Erschließung der Geschichte des Kauf- und Konsumboykotts in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert konzipiert. Anhand der Betrachtung ausgewählter Boykottbeispiele aus unterschiedlichen Jahrzehnten werden Kontinuitäten und Wandel dieser Protestform auf inhaltlicher und organisatorischer Ebene im Zeitverlauf nachgezeichnet. Im Zentrum der Untersuchung stehen dabei jene individuellen und kollektiven Akteure, die aktiv zum Konsumverzicht aufgerufen haben beziehungsweise an der Organisation von Boykotten beteiligt waren. Das betrifft deren Selbsteinschätzung und Motivationsgründe ebenso wie die zur Anwendung gelangten Strategien. Über die akteurszentrierte Analyse der aktivistischen Arbeit soll letztlich der Frage nachgegangen werden, inwieweit es möglich ist, soziomoralische Intentionen und politische Ziele, also genuin marktfremde Elemente, über Marktstrukturen zu verhandeln und durchzusetzen.

(Die Dissertation ist unter dem Titel "Varianten des Verzichts. Zur Geschichte des Konsumboykotts in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert" erschienen und kann unter folgendem Link abgerufen werden: https://macau.uni-kiel.de/receive/macau_mods_00004120)
 

Steffen Dörre: Die Vermessung der Weltwirtschaft. Ökonomische Deutungseliten in Deutschland und das Wissen über Globalisierungsprozesse (1940-1980) (Dissertationsprojekt)

Ziel des Projekts ist es, Identitäts- und Alteritätskonstruktionen im ökonomischen Feld zu untersuchen und diese als wirkmächtige Vorstellungen zu begreifen. Gerade durch den Fokus auf die sich wandelnden Peripherien – die „Südländer“, die „entwicklungsfähigen Länder“ und die „unterentwickelten Länder“ –  kann die Genese einer europäischen Identität und die Wirkmächtigkeit von Europavorstellungen in der Ökonomie analysiert werden. Durch die Analyse der Wahrnehmung „fremder Märkte“ und „fremder Völker“ soll also zugleich der Wandel der Selbstbeschreibungskategorien sichtbar gemacht werden. Der Zugriff erfolgt über eine auf die Globalisierung und Europäisierung nach 1945 einflussreiche Gruppe von exportorientierten Unternehmern. Diese wird als Denkkollektiv begriffen, die einen spezifischen Denkstil ausprägte. Fünf miteinander verwobene Aspekte werden dabei untersucht: 1.) die Wahrnehmung des Globalisierungsprozesses, 2.) die geteilten zeitgenössischen Wissensbestände über die wichtigsten „fremden Märkte“ und „fremden Völker“, 3.) die Entstehung nationaler und internationaler Netzwerke zum Zweck des Erfahrungs- und Informationsaustauschs, 4.) den daraus resultierenden Wandel von Selbst- und Fremdbildern sowie 5.) dessen Auswirkung auf die Entscheidungen über Formen und Umfang des Auslandsengagements. Dies geschieht auf breiter, größtenteils völlig neu erschlossener, Quellenbasis. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei einerseits auf nationale, transnationale und transkulturelle Transfer- und Kommunikationsprozesse, andererseits auf den Wandel von Selbst- und Fremdbeschreibungen. Die Arbeit verspricht damit Erkenntnisse zu den mentalen Grundlagen der Europäisierung im ökonomischen Feld und ermöglicht zudem eine theoretische Erweiterung historischer und  ökonomischer Globalisierungstheorien.

(Die Dissertation erschien 2019 in überarbeiteter Form unter dem Titel 'Wirtschaftswunder global. Die Geschichte der Überseemärkte in der frühen Bundesrepublik' beim Franz Steiner Verlag)
 

Moritz Glaser: Wandel durch Tourismus. Die Touristifizierung der spanischen Küstenregionen durch den westeuropäischen Massentourismus, 1960-1990 (Dissertationsprojekt)

Ziel des Projektes ist es, die Auswirkungen des Massentourismus in Spanien als Teil einer westeuropäischen Verflechtungsgeschichte zu untersuchen. Ausgehend von der These, dass die soziale Konstitution Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen durch eine zunehmende Interdependenz der europäischen Gesellschaft geprägt wurde, fasst das Projekt den Massentourismus als Bindeglied zwischen den Gesellschaften Nordwest- und Südeuropas auf. Zur Untersuchung sowohl der Kontakte, die sich durch Tourismus ergaben als auch der sozioökonomischen, kulturellen und ökologischen Auswirkungen, die diese wiederum zeitigten, werden ausgewählte Regionen und Lokalitäten an der spanischen Mittelmeerküste in den Fokus gerückt. Da hier gesellschaftlicher Wandel in erster Linie auf den Tourismus zurückzuführen ist, werden so die translokalen bzw. –regionalen Bezüge dieser Räume sichtbar. Zur Erfassung der Auswirkungen des Tourismus dient das Konzept der Touristifizierung von Räumen, das sich zur Beschreibung und Erklärung einer zunehmenden Einrichtung von Räumen auf die Bedürfnisse von Touristen eignet. In einer sozialgeschichtlichen Rückbindung dieses Ansatzes baut das Forschungsprojekt diesen aus und berücksichtigt auf der Basis von archivalischen Quellen soziale und ökonomische Rückkopplungseffekte. Das Projekt verspricht damit, die Frage zu beantworten, wie der westeuropäische Massentourismus sein transformatives Potential entfaltete, bestimmte Räume völlig umgestaltete und dabei Zielregionen und Herkunftsländer miteinander verknüpfte.

(Die Dissertation erschien 2018 in überarbeiteter Form unter dem Titel 'Wandel durch Tourismus. Spanien als Strand Europas, 1950-1983 beim UVK Verlag)
 

Sebastian Schlund: Geschichte des Behindertensports. Freizeitaktivitäten von Menschen mit Behinderung im Spannungsfeld von Stereotypen und Identitätsbildungsprozessen seit 1945 (Dissertationsprojekt)

Das Dissertationsprojekt widmet sich anhand des Behindertensports dem Freizeitbereich von Menschen mit Behinderung. Dabei wird untersucht, auf welche Barrieren Menschen mit Behinderung im Sport in Deutschland seit 1945 stießen und welchen Wandlungsprozessen diese Einschränkungen unterlagen. Gleichzeitig bietet der Bereich der Freizeitgestaltung behinderter Menschen die Möglichkeit, Einblicke in die Strategien der Identitätsbildung in Auseinandersetzung mit Stereotypen über Behinderung nachzuvollziehen und zu prüfen, inwiefern sich Menschen mit Behinderung hierbei an gesellschaftlich tradierte Normvorstellungen anpassten. Daran anschließend gilt es zu untersuchen, wie die soziale Interaktion zwischen Menschen mit und ohne Behinderung im sportlichen Umfeld einen beiderseitigen Wandel dieser Perzeptionen auslöste und sich somit die Determinanten für die Inklusion von Menschen mit Behinderung auch in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext veränderten. Somit versteht sich das Projekt erstens als Analyse von „Behinderung“ als Kategorie sozialer Ungleichheit in einem gesellschaftlichen Teilbereich. Zweitens steht die Untersuchung im Kontext einer vor allem körpergeschichtlich inspirierten Sportgeschichte.

(Die Dissertation erschien in überarbeiteter Form unter dem Titel 'Behinderung überwinden? Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1990) in der Reihe 'Disability History' des Campus Verlags)
 

Jan Stoll: Von der „versehrten Nation“ zum „selbstbewussten behinderten Bürger“. Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderung in Deutschland seit 1945 (Dissertationsprojekt)

Die Dissertation untersucht die (gesellschafts-)politische Interessenvertretung und Öffentlichkeitsarbeit von Behindertengruppen und Organisationen von Menschen mit Behinderung in beiden deutschen Staaten seit 1945. Im Zentrum steht dabei die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen, auf die die Organisationen bei ihren Bemühungen jeweils stießen, das gesellschaftliche Bild von Behinderung zu beeinflussen und eigene Interessen durchzusetzen. Als größte Gruppe behinderter Menschen in der frühen Bundesrepublik geraten zunächst die sogenannten Kriegsbeschädigten in den Blick. Deren Verbände waren um die Ausgestaltung einer exklusiven Kriegsopferversorgung bemüht und konnten sich aufgrund ihrer weitreichenden personellen Netzwerke an vielen Stellen durchsetzen. Interessenvertretung der Kriegsopferverbände in den fünfziger Jahren basierte zudem auf einer Interessengleichheit von Verbänden und Staat, die am Ende der Nachkriegszeit an ihre Grenzen stieß. Hier, etwa zwischen 1957 und 1963 entstanden zudem neue Organisationen für Menschen mit Behinderung. Die sogenannten Elternvereinigungen machten deutlich, dass Behinderung nicht nur ein Phänomen war, das Männer betreffen konnte, die aus dem Krieg zurückkehrten, sondern auch Kinder. Aufgrund ihrer personellen Zusammensetzung aus betroffenen Eltern und wissenschaftlichen Experten konnten Vereinigungen wie die Lebenshilfe für das behinderte Kind Wirkung entfalten und zum Beispiel Veränderungen für Kinder mit Behinderung im Bereich der Bildung und Beschulung erreichen. Seit den frühen siebziger Jahren traten Menschen mit Behinderung im Kontext neuer sozialer Bewegungen in Erscheinung. Sie traten zunehmend für Selbstbestimmung und Selbstvertretung ein. Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderung trugen somit zum Abbau gesellschaftlicher und physischer Barrieren und gesellschaftlicher Exklusionspraktiken bei. Dabei waren aber jeweils unterschiedliche Hierarchisierungen und Ausschlüsse wirksam, die unter anderem von der Behinderungsart, aber auch vom sozialen Status abhängig waren.

(Die Dissertation erschien in überarbeiteter Form unter dem Titel 'Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945' in der Reihe 'Disability History' des Campus Verlages)