Projekt: Engineering Dis/Abilities (Henschel)

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„Engineering Dis/Abilities“ in einer modernen Gesellschaft – Das Kinderheimsystem der sozialistischen Tschechoslowakei (1945/48-1989)

Forschungsprojekt an der Universität Kiel von Dr. Frank Henschel

 

Das Projekt untersucht unter Nutzung der Konzepte "Social Engineering“, „Biopolitik“ und „Dis/ability“ auf Kinder, Kindheit und Familien bezogene Vorstellungen von „A/Normalität“ und „Behinderung“ in der sozialistischen Tschechoslowakei zwischen 1945/48 und 1989. Es fokussiert in vergleichender, transnationaler Perspektive jedoch nicht nur auf Diskurse gesundheitswissenschaftlicher und pädagogischer bzw. politischer Akteure, sondern auch auf Institutionen der Kinderfürsorge Der Aufbau und die Entwicklung des Heimsystems für „normale“ wie für „behinderte“ Kinder werden als ein von Politik und Wissenschaft vorangetriebenes Projekt der Normierung und Steuerung kindlichen Aufwachsens und familiären Lebens durch die Einführung kollektiver Fürsorgeregime und dauerhafter Erziehungsinstitutionen beschrieben. Dieses Vorhaben war durch zahlreiche Ambivalenzen und Spannungen geprägt, welche sich aus konfligierenden Diskursen und Praktiken der verschiedenen Akteure sowie aus politisch-ideologischem und wissenschaftlichen Anspruch und institutioneller Wirklichkeit ergaben.

Die Untersuchungsperspektive des „Social Engineering“ in Verbindung mit dem heuristischen und analytischen Prisma der „Biopolitik“ eröffnete dabei einen äußerst innovativen Ansatz zur Beschreibung von Kinderheimen als Spiegel für Ideale, Konzepte und Realitäten wissenschaftlich abgestützter, sozialistischer Fürsorge- und Erziehungsarbeit im allgemeinen Kontext der Familien- und Sozialpolitik, die auf die Aufrechterhaltung qualitativer Bevölkerungsmerkmale wie der Produktivität und ideologisch-moralischer Loyalität abzielte. Dabei geraten insbesondere repressive Momente in den Blick, wenn Experten und Staat unter Anknüpfung an eugenisches Denkens auf Kinder unterprivilegierter und /oder „Zigeunerfamilien“ zugreifen. Hinsichtlich dieser Intersektionalitäten bieten die Perspektiven und Begriffe der „Dis/ability History“ eine differenzierte und systematische, für einen angestrebten transnationalen Vergleich geeignete Analyse von auf Kindern bezogenen Vorstellungen von „Fähigkeit“ und „Behinderung“, „Normalität“ und „Anormalität“, „Konformität“ und „Devianz“. Dieses Forschungsdesign richtet den Blick nicht nur auf Zuschreibungen körperlicher, psychischer und sensorischer „Behinderung“, sondern öffnet ihn auch für Klassifikation und Umgang mit mentaler, emotionaler, charakterlicher, habitueller, kurz „sozialer Dis/ability“. Deren Klassifikation und Behandlung hing eng mit den zentralen Zielen sozialistischer Erziehungspolitik zusammen, nämlich Bildungs- und Schulfähigkeit, Erziehung zur Arbeit und zur Eingliederung ins Berufsleben sowie nicht zuletzt Erziehung zur Elternschaft. Über die engere Phase der „Kindheit“ gehen die hier zu gewinnenden Erkenntnisse also weit hinaus und versprechen neue Einsichten in die Funktionsweisen von Politik, Wissenschaft und Macht in einer modernen sozialistischen Gesellschaft